Eine Kleinstadt im Hohenloher Land, Sandstein, Fachwerk. Und
plötzlich ein sechsfacher Mord in einer Familie. Über einen Ort unter
Schock.
"Rot am See ist paralysiert"
Das Hohenloher Land
zählte bislang zu den weniger bekannten Regionen in Deutschland. Eine
liebliche Landschaft mit weiten Äckern, sanften Hügeln und vielen alten
Burgen und Schlössern, die von einer bewegten Vergangenheit im
Grenzgebiet zwischen Franken und Württemberg erzählen. Hier liegt Rot am
See, in dem man vergeblich nach dem namensgebenden Stausee sucht, weil
der schon vor 250 Jahren zugeschüttet wurde. Ein gepflegter Ort mit
Fachwerk, Sandstein und Fensterläden, der am Freitag jäh aus seiner
Idylle gerissen wurde, als ein 26-jähriger Mann in der Gaststätte seines
Vaters offenbar mit einer Pistole auf mehrere Angehörigen losging und
sechs von ihnen erschoss.
Unklar ist auch am Tag danach, warum
Mutter, Vater und vier weitere Menschen sterben mussten: die Tante des
mutmaßlichen Täters und deren Mann, sowie zwei Halbgeschwister des
Schützen. Zwei Opfer überlebten die Schüsse und wurden ins Krankenhaus
gebracht. Ein 68-Jähriger schwebte am Samstag noch immer in
Lebensgefahr, während gegen den mutmaßlichen Schützen Adrian S.
Haftbefehl erlassen wurde. Ihm wird sechsfacher Mord und zweifacher
versuchter Mord vorgeworfen.
Die Gemeinde Rot zählt 5400
Einwohner, die sich auf etliche eingemeindete Dörfer verteilen. Der Ort
selbst ist überschaubar. Hier grüßt man sich, wenn man sich auf der
Straße begegnet. Und wer erst vor 25 Jahren hergezogen ist, der gilt als
"Neigschmeckter". Klaus S., der am Freitag wohl durch die Pistole
seines Sohns starb, war ein Einheimischer. Seine Familie habe das
Gasthaus "Deutscher Kaiser" schon seit Generationen betrieben, sagt eine
Nachbarin. "Ich glaube, 90 Prozent der Leute in Rot am See
kannten ihn."
Der Sohn und mutmaßliche Täter, der sich am Freitag selbst der
Polizei gestellt hat, ist im Ort dagegen fast unbekannt. Seine Eltern
haben sich offenbar schon vor langer Zeit scheiden lassen, woraufhin er
bei seiner Mutter in Schwarzwald aufgewachsen sein soll. Vor wenigen
Jahren soll er bei seinem Vater eingezogen sein. Es gibt Gerüchte, dass
der 26-Jährige viel daheim saß, in der Wohnung über der Gaststätte, und
Computer spielte. Dass er fünf Kilometer weiter in einem Schützenverein
aktiv war und ein Einzelgänger war. Doch weil sich natürlich auch die
Menschen aus Rot am See für das interessieren, was die Medien über ihren
Ort schreiben, ist schon am Samstag schwer zu sagen, was davon Wissen
aus erster Hand ist.
Am Vormittag werden die Einwohner erneut aufgeschreckt: Schon wieder Schüsse?
Jedenfalls
muss man nicht lange suchen, um etwas über die Familie S. zu erfahren.
Ob auf der Straße, beim Bäcker oder in einem der für die kleine Gemeinde
erstaunlich vielen Gasthöfe, überall ist die Tat das Tagesgespräch. Im
Café der Bäckerei "Schrozberger" liegt die Bild-Zeitung auf
dem Tresen. "Blutiger Freitag!" brüllen extragroße Lettern auf der
Titelseite. Gemeint ist damit natürlich der Mehrfachmord, der sich nur
wenige hundert Meter entfernt in der Bahnhofstraße ereignet hat, im
Gasthaus "Deutscher Kaiser".
"Bildzeitung, erste Seite: Rot am See. Das musst du nicht haben",
sagt ein Mann, der sich im Café mit Freunden zu Frühstück getroffen hat.
Vier Alteingesessene, die viele der Opfer seit Langem kannten. Einer
aus der Frühstücksrunde wohnt direkt gegenüber vom Gasthaus. Er hat die
Schüsse nicht gehört, aber weil er in der Bahnhofstraße wohnt und im
Telefonbuch steht, wurde er nur wenige Minuten später von der Bild
angerufen. Die vier haben alles, was sie mittlerweile über die Tat
erfahren haben, besprochen. So soll die Mutter des mutmaßlichen Täters
mit ihren Kindern aus einer früheren Beziehung und zwei Enkeln auf der
Durchreise gewesen sein. Die 56-Jährige wollte, so haben sie es gehört,
am Samstag nach Ostdeutschland fahren zur Beerdigung ihrer Mutter. Die
Frühstücksrunde hat auch über das Motiv gerätselt und die Frage, was
jetzt aus dem Gasthaus wird. Als die vier schließlich anfangen, sich
auszumalen, wie der 26-jährige Sohn auf seine Eltern gezielt hat und
manche der Opfer versucht haben müssen, ins Freie zu fliehen, verordnen
sie sich schließlich selbst einen Themenwechsel. Das ist eindeutig
zu schrecklich.
"Rot am See ist paralysiert", sagt einer der
Männer. Auf den ersten Blick geht das Leben am Tag danach seinen
normalen Gang, die Leute machen Besorgungen, gehen zum Mittagessen. Aber
alles wirkt an diesem Tag ein bisschen unwirklich. Am Vormittag werden
die Menschen noch einmal aufgeschreckt: Der Polizei werden um Viertel
vor elf Schüsse gemeldet, wieder in Rot am See. Bald darauf gibt die
Polizei Entwarnung: Ein Verdächtiger sei festgenommen worden, doch sei
noch nicht einmal klar, ob wirklich Schüsse gefallen waren.
Möglicherweise habe da jemand als Trittbrettfahrer Aufmerksamkeit auf
sich ziehen wollen.
Am Freitag war schon kurzfristig der
Comedy-Abend mit Uli Boettcher abgesagt worden, der im Bürgerhaus
geplant war. Nicht die einzige Veranstaltung, die an diesem Wochenende
ausfällt: Der TV Rot am See wollte am Sonntag im Bürgerhaus
Sportabzeichen an alle erfolgreichen Teilnehmer des vergangenen Jahres
verleihen. Nun hängt an der Tür des Bürgerhauses ein Ausdruck: Die
Verleihung fällt wegen der Ereignisse vom Freitag aus.
Der
"Deutsche Kaiser" war eine Sportgaststätte in einem historischen
Sandsteinhaus, die besonders gerne von den Fußballern des TV Rot am See
besucht wurde. Hier haben sie ihre Siege gefeiert, hier wurden Bierchen
getrunken hat, Fußball geschaut und geraucht. Der Wirt soll ein großer
Fan des VfB Stuttgart gewesen sein. Seine 62-jährige Schwester und deren
Mann haben dort immer wieder ausgeholfen. Die beiden lebten in einem
Haus etwas unterhalb der Gaststätte.
"Das waren ganz sympathische
Menschen. Rechtschaffende Leute", sagt eine ältere Dame, die nicht weit
vom Tatort entfernt wohnt. Sie hat gerade lange mit einem befreundeten
Ehepaar über das alles geredet. Am Ende fasst sie das ganze Drama in
einem Satz zusammen: "Liebe Zeit, wer hätte das gedacht."